Kapellen – Orte mit überraschender Geschichte
von Pastoralassistent Gregor Schirra
Sie prägen unser Orts- und Landschaftsbild, sind Zeichen einer persönlichen Geschichte mit Erfahrungen von Leid und Not, aber auch Freude und Dankbarkeit – unsere Kapellen. Sie grüßen von Höhen, stehen an Gefahrenstellen der Natur oder zieren die kleinen Weiler und Gehöfte. Doch oft ist ihre teilweise lange Geschichte vergessen, oder sie stehen verlassen und unbeachtet. Dabei lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihnen.
Zunächst muss hier geklärt werden, was eine Kapelle von einer Kirche unterscheidet. Der Begriff Kirche trifft nur für den Gottesdienstraum einer Pfarrgemeinde zu, in dem alle Sakramente der Kirche gespendet werden können. Kapellen dagegen haben selten einen eigenen Beichtstuhl oder Taufstein. Und sie haben keinen eigenen Pfarrer (gehabt), der dort seine ganze Gemeinde um sich sammelt. Der Begriff Kapelle hat seine Wurzeln im frühen Mittelalter. Wie allgemein üblich pflegte auch der merowingische Hof in Frankreich den Brauch der Reichskleinodien, Reliquien und Zeichen, die die Königswürde untermauern sollten. Dazu zählte dort die Reliquie des Mantels von Bischof Martin von Tours. Solch ein Kleidungsstück wurde altlateinisch capa und mittellateinisch capella genannt, auf französisch chapelle. Da nun dieses Mäntelchen zum Hofzeremoniell nötig war, führte es der König auch stets bei der Reise durch seine Lande mit sich und verwahrte es nebst den übrigen Reichskleinodien am jeweiligen Aufenthaltsort in einem kleinen Raum neben dem Thronsaal. In den Wirren des Krieges gegen die Hugenotten wurde diese Reliquie großteils zerstört, so dass man sie heute nicht mehr sehen kann.
Dass man heilige Gegenstände zum Reichsschatz zählte, muss nicht verwundern. Sie belegten die Herrschaft „von Gottes Gnaden“, also dass die Ständeordnung der Gesellschaft als von Gott so vorgegeben angesehen wurde. Bekannter sind Reliquien wie die heilige Lanze (Wien) oder der heilige Rock (Trier). Ab dem 8. Jhdt. ist belegt, dass dann sowohl der Reliquienschrein wie auch der Aufbewahrungsraum selbst den Titel Capella führen, ob nun der Mantel darin war oder nicht. Vom französischen Hof übertrug sich der Begriff an viele europäische Fürstenhöfe, Bischofsstühle und Klöster, die die Verwahrorte ihrer Kleinodien und Reliquien nun ebenfalls capella benannten. Die Pflege der Reliquien und die Verwaltung ihrer Verehrung wurde einem Geistlichen übertragen, dem Kaplan. Später übernahmen diesen Dienst auch ganze Klostergemeinschaften, die dort ihr Chorgebet verrichteten. So übertrug sich der Name capella weiter auf die Chorgemeinschaft, wie auch der musikalische Begriff des A-capella-Singens (Gesang ohne Instrumentalbegleitung) belegt. Im weiteren Verlauf wurde dieser dann auch auf profane Chöre und Musikergruppen ausgeweitet.
Während nun die Gebets- und Verwahrräume der Reichskleinodien capella genannt wurden, bezeichnete man die über Land verstreuten kleinen Gebetsstätten, die wegen ihrer Größe nicht in den Rang einer Kirche aufstiegen, ehemals als cella. Dies hat seinen Ursprung darin, dass zur Pflege des Gotteshauses stets wenigstens ein Klausner/Einsiedler, wenn nicht gar ein paar Mönche oder Nonnen bestellt werden mussten, die in dessen Nachbarschaft eine Zelle zu errichten hatten. Erst ab dem 17. Jhdt. taucht der Begriff der Kapelle auch bei kleinen Gebetshäusern auf, die auf bürgerlich/bäuerliche Privatinitiative hin wohnortnah zu den Stiftern errichtet wurden und Ausdruck ihres persönlichen Gebetsanliegens oder Erfüllung eines Gelübdes sind.
Dabei hat dann auch jede Kapelle eine eigene, mitunter erschütternde oder auch charmante Geschichte, die zu betrachten sich durchaus lohnt. Ich kenne ein paar Kapellen, die aufgrund des bisher unerfüllten Kinderwunsches ausgelobt wurden. Als sich der Kindersegen einstellte, wurde die Kapelle errichtet. Von der „Spinnerkapelle“ in Oberstaufen ist überliefert, dass sie so großen Segen bewirkte, dass der Stifter, ein Leinenspinner von Beruf, mit einem weiteren Eid die Einebnung der Kapelle androhen musste, um dem Himmel zu verdeutlichen, dass er ihm nun genug Kinder geschenkt habe und einhalten könne mit seinem Segen. Solche oder andere Entstehungsgeschichten bewegen das Herz und sind sicher wert, entdeckt und überliefert zu werden.
Ein persönlicher Gedanke: Nicht nur um unsere Kapellen zu erhalten, sondern auch ihre Tradition und ihren Nutzen neu zu beleben, möchte ich Sie anregen, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Lassen Sie die Kapellen wieder zu Orten Ihrer persönlichen Gebete und Anliegen werden. Nutzen Sie die Gelegenheit, sich gegenseitig in Ihre Kleinode einzuladen und sie zu erkunden. So werden sie durch Ihr Gebet mit den Nachbarn zu Ihrem persönlichen Ort der Gottesbegegnung. Dazu wünsche ich Ihnen viel Freude und den nötigen langen Atem, auch zum Wohl unserer Heimat und ihrer Kultur.
Dieser Artikel ist in Heft 85 der „Walserheimat“ zu finden.